Die Gabe

Teisho von Roland Yuno Rech – Gyobutsuji-Tempel Nizza, Januar 2021

Meister Hyakujō sagte : «Wie gelangt man auf den Weg des Zen? Indem man die Paramita der Gabe praktiziert. » Und warum diese Paramita der Gabe? Weil wir uns durch sie unsere totale wechselseitige Abhängigkeit mit allen Wesen vergegenwärtigen können. Im Grunde besitzen wir nämlich gar nichts. Nicht einmal unser Körper gehört uns und eines Tages müssen wir ihn wieder abgeben sowie alles andere auch, was wir besitzen. Wenn wir allerdings begreifen, dass uns nichts gehört, bewirkt das zunächst ein großes Erwachen, denn es macht unseren Ängsten vor Verlust und Mangel ein Ende, was wiederum in uns große Freude auslöst. Und durch diese Freude wird das Geben zu etwas ganz Selbstverständlichem, zum Ausdruck dieser Freude selbst, dieses Glücks des Erwachens durch Zazen.

2663 don 1

Anders als vielleicht in anderen Religionen wird das Geben im Zen nicht als Verzicht, als Opfer erlebt, sondern als freudespendende Konsequenz des Erwachens zur wahren Natur unserer Existenz, und nicht nur der unseren, sondern aller Existenzen. Deshalb steht das Geben im Zen immer an erster Stelle.

Im Weiteren werde ich natürlich auch noch auf die verschiedenen Aspekte der Gabe im Einzelnen zu sprechen kommen. Ihr kennt alle die erste Unterweisung Buddhas, die Vier Edlen Wahrheiten. Ich werde sie hier nur streifen, denn sie werden noch Thema anderer Teishos sein. In den Vier Edlen Wahrheiten geht es um das Bewusstwerden des Leidens, dessen Ursachen sowie der Gegenmittel, und schließlich der Achtfache Pfad, eine Auflistung der verschiedenen praktischen Mittel gegen das Leiden.

Dies alles macht deutlich, dass die Unterweisungen Buddhas zum Ziel haben, allen Wesen dabei zu helfen, sich ihres Leidens bewusst zu werden, und zwar nicht nur des eigenen, sondern des Leidens aller Wesen und aufzuzeigen, dass Leiden Ursachen hat, gegen die es Mittel gibt, die dann aufgezählt werden. Am Anfang des Wirkens Buddhas steht ein großes Geschenk, ein großes Fuse, eine grundlegende Gabe, weil es allen Wesen hilft, zu erkennen, dass es Ursachen und somit auch Abhilfe gegen das Leiden gibt. Und unter diesen Gegenmitteln spielt die Gabe eine zentrale Rolle.

Die Mittel gegen das Leiden, die Buddha lehrt, sind acht praktische Anweisungen, der sogenannte Edle Achtfache Pfad, sowie die 6 Paramita, die wir schon besprochen haben, darunter die Gebote, um die es bei anderer Gelegenheit gehen soll. Die Gebote sind auch eine Form von Gabe. Alles, was man unter Beachtung der Gebote tut, verhindert, neues Leiden zu schaffen. Das erste Gebot heißt: « Nicht töten. » Dann kommt: « Nicht stehlen. », denn auch so verhindert man, dass neues Leiden entsteht. Das heißt nicht nur, dass man nicht stiehlt, sondern dass man die Gabe praktiziert, ganz im Sinne von « nicht an sich nehmen, was einem nicht gehört. » Und da uns eigentlich nichts gehört, können wir nicht anders als geben.

Weitere Praktiken des Bodhisattva enthält der von Meister Dogen so betitelte Shishobo, die vier segensreichen Handlungen. Und auch hier steht Fuse, die Gabe an erster Stelle, gefolgt von Aigo, der wohlwollenden Rede, denn auch die Sprache ist Gelegenheit zur Gabe.  Aigo, die wohlwollende Rede, heißt Zuspruch und Anerkennung schenken. Die Art und Weise, in der man mit anderen spricht, kann zur Praxis der Gabe werden und gleichzeitig zur einer Praxis des Zuhörens: Die Zeit, die man anderen durch Zuhören schenkt, gehört unbedingt zur Praxis des Gebens. Menschen brauchen eher jemanden, der ihnen zuhört als jemanden, der ihnen Ratschläge und Empfehlungen gibt. Auch das ist eine Praxis des Gebens.

Ein weiterer Aspekt der Praxis der Gabe ist Rigyo, «Wohltätige Handlungen». Hier gibt es natürlich unzählige Möglichkeiten, aktiv zu werden. Als Beispiel sei nur samu genannt, die Hilfsbereitschaft par excellence, wie wir sie im Dojo praktizieren. Aber alle Form von Arbeit, die wir in der Gesellschaft leisten, ist eine Form von Gabe an diese, mit der wir zum guten Funktionieren des Gemeinwohls beitragen. Auf diese Weise setzen wir unsere Energie mit Großherzigkeit ein: Wir arbeiten nicht nur, um uns finanziell zu bereichern und um für unseren Unterhalt zu sorgen, sondern auch, um der Gemeinschaft, in der wir leben, einen Dienst zu erweisen. Noch eine Form von Gabe!

Die Gabe ist somit Ausdruck des Erwachens und zugleich Gelegenheit zu dessen Verwirklichung. Die Praxis des Gebens beinhaltet immer diese beiden Aspekte und besonders, wenn es um das Geben von Zeit und Energie im Dojo geht, sei es beim Zazen, beim Samu oder selbst bei den Zeremonien. Zeremonien im Dojo sind immer dem Wohl bestimmter Menschen gewidmet, wie wir es heute morgen hier bei uns erlebt haben. Alle Handlungen in einem Dojo sind praktizierte Gabe. Aber gleichzeitig kommen diese Praktiken auch uns selbst wieder zu Gute. Die Gabe praktizieren bedeutet immer auch teilen, was wiederum die Praktizierenden glücklich macht. In vielen Religionen ist Opfer ein zentraler Begriff; im Zen spielt er überhaupt keine Rolle, da hier das freudige Teilen mit allen Wesen im Vordergrund steht.

Vorhin habe ich über die Vier Praktiken des Bodhisattva jenseits der Paramita gesprochen: zunächste die Gabe, dann das liebevolle Sprechen und die Hilfsbereitschaft, so fehlt als viertes noch doji, die Pflege der Gemeinschaft bzw. sich nicht von den anderen abzusondern. Auch das ist eine äußerst wichtige Praxis. Es gibt bei verschiedenen Meditationswegen oft die Tendenz, die Einsamkeit für eine gute Sache zu halten, sich selbst zu sammeln und sich so von der wechselseitigen Abhängigkeit mit anderen abzuschneiden. Daher ziehen sich viele Meditierende in die Berge, in Höhlen oder auch in Kloster zurück, um so nicht mehr in der Gesellschaft zu leben. Meister Deshimaru und alle Meister des Großen Fahrzeugs haben das Gegenteil gepredigt, nämlich das Leben mit allen zu teilen.

In diesem Zusammenhang sei an die bekannten Drei Fahrzeuge erinnert: der Theravada, etwas abfällig auch als Kleines Fahrzeug bezeichnet, denn Priorität für die Praktizierenden dieses Weges, besonders in Indien und Ostasien, ist es, sich selbst zu retten, seinen eigenen Ausweg aus dem Kreis der Wiedergeburten zu finden, durch die man immer wieder dem Leiden in Form von Krankheit, Alter und Tod begegnet,  Nichterfüllung von Wünschen und Verlust von Geliebtem. All das verursacht Leiden.

Dies ist ein Aspekt des Kleinen Fahrzeugs, der das genaue Gegenteil der Gabe ausdrückt, ganz im Sinne von « Rette sich, wer kann », um dem Leiden zu entkommen. Zum Glück sind sich dann zahlreiche Buddhisten, dank der Verbreitung des Großen Fahrzeugs im 1.Jahrhundert v.Chr., der Absurdität dieser Haltung bewusst geworden, denn der wahre Sinn der Lehre Buddhas ist es, allen Wesen zu helfen, wie er es selbst getan hat. Buddha war vor allem Bodhisattva, also jemand, der der Gabe, fuse, praktiziert. In diesem Sinne hat das Große Fahrzeug mit seiner Priorisierung der Gabe im 1.Jahrhundert v.Chr. einen großen Aufschwung  erfahren.

Gewiss erinnert Dogen im Shishobo an andere Aspekte neben der Gabe im eigentlichen Sinne (fuse), wie das liebevolle Sprechen (aigo), die Hilfsbereitschaft (rigyo) und die Pflege der Gemeinschaft (doji). Auf diesen letzten Aspekt möchte ich noch einmal zurückkommen. Sich nicht nur nicht von den anderen abzusondern, sondern im Gegenteil das Dasein mit allen Wesen zu teilen, ist ebenfalls eine Form von Gabe. Mitten in der Gesellschaft zu leben und sich nicht in die Berge zurückzuziehen heißt sich ganz dem Leben in der Gesellschaft, dem Leben mit den anderen zu widmen und keine Gelegenheit auszulassen, den anderen zu helfen. Deshalb ist Zen seit jeher eine Praxis mit den anderen und für die anderen, in der Gesellschaft, ohne sich von seiner Umgebung abzutrennen.

Und ich möchte hinzufügen, ein ökologisch verantwortungsvolles Leben führen, da man sich heute der Wichtigkeit bewusst ist, das Leben auf unserem Planeten zu erhalten. Ökologisch verantwortliches Handeln ist praktizierte Gabe. Der Schutz allen Lebens, nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere und Pflanzen, der Luft, die wir atmen ist praktizierte Gabe, und schon im gewöhnlichen Leben ist diese Praxis anerkennenswert, da sie für die Bedingungen des Fortbestands des Lebens auf unserem Planeten sorgt. Die Zenpraxis geht allerdings über den bloßen Schutz des Lebens hinaus, indem es ihr nämlich um die Quintessenz des Erwachens geht, d.h. um das Gefühl der Einheit mit allen Lebewesen und dessen Verwirklichung in jedem Augenblick des Alltags.

Großzügigkeit hat zwei Aspekte: einmal erlaubt sie uns zu verzichten, indem wir die Gier als eines der drei Geistesgifte ablegen (wie ihr wisst, sind die drei Geistesgifte Gier, Hass und Unwissenheit, und auf ihnen beruhen alle Leiden), und deshalb hat die Gabe auch Vorrang vor anderen Praktiken. Zum anderen ist sie Verwirklichung des Erwachens. Diese beiden Aspekte gehören zusammen : die Gabe ist einerseits Ausdruck des Erwachens und ermöglicht uns andererseits, das Erwachen immer wieder zu erneuern. Sie wirkt sich in beide Richtungen aus.

Frage 1:  Im Zusammenhang mit dem Kleinen Fahrzeug haben Sie gesagt : « Es gilt, das Wiedergeborenwerden zu vermeiden, um Leiden zu ersparen. » Was bedeutet das ?

RYR: Ja, das heißt, dieses Leben hier auf der Erde hinter sich zu bringen um das Nirwana, die Auslöschung allen Leidens, zu erreichen. Wenn wir leiden, dann deshalb, weil wir in dieser Welt leben, und deshalb hat für die Anhänger des Kleinen Fahrzeugs die Praxis des Buddhismus das Erreichen des Nirwanas zum Ziel, das dem Kreislauf der Wiedergeburten ein Ende setzt. Im Allgemeinen wird im Buddhismus an die Wiedergeburt geglaubt, was im Zen allerdings weniger wichtig ist. Wir werden das vielleicht ein anderes Mal besprechen, aber es ist im Zen nicht wesentlich. Im Zen ist man im Hier und Jetzt. Man kümmert sich nicht um Wiedergeburten, auch wenn man sie nicht negiert oder ablehnt. Um wieder auf die Großzügigkeit zurück zu kommen, so ist die Bereitschaft, wiedergeboren zu werden, eine durch und durch großzügige Haltung, da dies bedeutet, von einer Existenz zur anderen seinen Körper und seine Energie der Hilfe aller anderen Wesen zu widmen. Und so schenkt man sein eigenes Leben den anderen, was das wertvollste aller Geschenke ist.

Frage 2: Ich persönlich würde mich gern manchmal in eine Höhle zurückziehen. Sollte man sich zwingen ins Dojo zu gehen, auch wenn man keine Lust dazu hat ? Ich bin es leid, ständig zu helfen, ich fühle mich wie ein alter Wischlappen.

RYR: Ja, ich denke, man sollte sich « zwingen », ins Dojo zu gehen. Wir haben von den 6 Paramita gesprochen, wovon das erste die Gabe ist und das zweite die Gebote. Nun folgt an dritter Stelle das Bemühen, im Sinne der Energie, die man in seine Praxis steckt, und besonders in die Praxis mit den anderen. Natürlich ist es viel leichter, sich morgens zu Hause auf sein Zafu zu setzen und danach zum Tagesgeschäft überzugehen, als sich auf den Weg ins Dojo zu machen, ob mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß, um dort zu praktizieren. Dies ist ganz klar eine Anstrengung, die neben Zeit und Energie unseren Beitrag zu einer intensiven Atmosphäre im Dojo ausmacht.

Zum Thema Wischlappen: ja, den braucht man zum Putzen, aber man ist nicht selbst einer, man benutzt ihn beim Samu. Aber Samu darf nicht zum Vorwand werden, jemanden auszunutzen. Hier bei uns zum Beispiel macht man Samu zweimal die Woche eine Viertelstunde lang, was nicht viel ist, gemessen an den anderthalb Stunden, die man pro jeweils im Dojo verbringt.

Das wichtigste dabei ist, das Samu auch ein Geschenk an sich selbst ist, als Gelegenheit zum Dienst an der Gemeinschaft, zu der man ja selbst gehört.

Das Gleiche denke ich übrigens über die Arbeit, wie ich vorhin schon gesagt habe. Man könnte meinen, dass man sich ausbeuten lässt, wenn man arbeiten geht, und in gewisser Weise stimmt das auch, da ja andere von unserer Arbeit profitieren (außer wenn man zum Beispiel im Öffentlichen Dienst oder der Verwaltung arbeitet). Aber Arbeit selbst ist Quelle der Befriedigung. Natürlich gibt es auch frustrierende Arbeiten, die nur zum Broterwerb dienen und wenn man könnte, würde man etwas anderes machen. Aber eben die Tatsache, seine Arbeit als Samu anzusehen verändert unsere Beziehung zu ihr, das Frustrierende, Langweilige, Zeit und Energie fressende tritt in den Hintergrund und wird verwandelt, weil man sich sagt, dass seine Arbeit Praxis und Gabe ist. Je nach innerer Haltung, mit der man an seine Arbeit geht, kann man die Arbeit als etwas Beglückendes erleben, eben weil sie Praxis der Gabe ist.

Und gerade in der aktuellen Situation der Coronakrise denke ich, dass es viele Gelegenheiten zu praktizieren gibt. Sich um andere zu kümmern, oder zum Beispiel Hygieneregeln zu befolgen ist ebenfalls praktizierte Gabe. Sehr umsichtig im Umgang mit anderen sein, nicht nur um sich selbst nicht anzustecken, sondern auch um das Virus nicht weiter zu geben, ist eine sehr gute Gelegenheit zu praktizieren. Menschen, die trotz  Ansteckungsgefahr durch Kontakt mit anderen arbeiten gehen, machen der Gesellschaft ein großes Geschenk, indem sie ihre Arbeit wirklich als Samu, als Dienst an der Gesellschaft tun, während sie genauso gut mit einem ärztlichen Attest zu Hause bleiben könnten.

Wie ihr wisst, ist der Kern des Buddhismus des Großen Fahrzeugs und somit des Zen mushotoku, das heißt Praktizieren ohne Profitgeist, wodurch der Verdienst durch Zazen immens wird. Meister Deshimaru hat die zehn großen Verdienste von Zazen aufgelistet. Sie sind bedeutend und man gibt sie der Gemeinschaft, den anderen zurück. Es macht Freude, diese Verdienste an Menschen weiterzugeben, die nicht praktizieren; hier kommt der etwas subtile Begriff der Übertragbarkeit der Verdienste ins Spiel. Daran kann man glauben oder auch nicht, ich jedenfalls glaube daran. Die Tatsache, dass alles, was wir tun, eine unsichtbare Auswirkung hat, ist nichts Konkretes, nichts, was man anfassen könnte, aber trotzdem mit einer gewissen Wirkung auf die Umgebung, in der wir leben. So erfahren die Orte, an denen sich Dojos oder Tempel befinden, einen sehr positiven Einfluss durch die Ausstrahlung der Praxis.

Ich habe eben über mushotoku, den Kern des Zen, gesprochen. Am Ende von Zazen singen wir Hannya Shingyo, das ist wahre praktizierte Gabe. Im Anschluss daran kommen die Vier Bodhisattva-Gelübde, ebenfalls ein Ausdruck der Gabe. Im Grunde ist unsere gesamte Praxis nichts anderes als Geben. Und deshalb ist es eine beglückende, freudige Praxis, wenn wir sie in diesem Sinne verstehen. Und das soll uns dieser Workshop heute klarmachen.

Übrigens ist die Freude, die wir beim Zazen erleben, kommunikativ. Wenn ihr diese Freude erlebt habt, so wird sie auch von den Menschen in eurer Umgebung, selbst wenn diese nicht praktizieren, als beruhigend und stärkend wahrgenommen, wenn ihr nach Zazen wieder nach Hause geht. Man nennt das im Zen kano doko, d.h.eine Form von Ausstrahlung der Praxis, die ihre Wirkung weit über den/die Praktizierende/n hinaus entfaltet.

Zum Thema Kausale Beziehungen der Gabe sagt Dogen, dass diese Wirkung selbst erwachte Menschen betrifft. So springt unsere praktizierte Gabe selbst auf einen Buddha über, wenn wir Zazen praktizieren. Buddha selbst empfängt die Früchte unserer Praxis. Er ist die Quelle unserer Praxis, er widmete sein Leben als ein großes fuse, als eine große Gabe, und das fünfundvierzig Jahre lang.  Er widmete sich der Aufgabe, den Wesen zu helfen, ihr Leiden durch die von ihm gelehrte Praxis zu beheben. Und gleichzeitig empfängt er die Früchte unserer Praxis, die wir wiederum seinem enormen Einsatz für die Übermittlung seiner Lehre verdanken. Daran sieht man die Kreisbewegung, die der Gabe zu Grunde liegt: Sie wirkt sich positiv auf die Empfänger aus, aber gleichzeitig auch auf die Praktizierenden und Lehrenden. Dogen sagt, dass selbst das Geben eines einzigen Satzes oder eines einzigen Verses, der die Wahrheit, das Dharma, die Lehre, ausdrückt, ein großes Geschenk ist.

Frage 3: Du hast von drei Fahrzeugen gesprochen, ich kenne aber nur zwei.

RYR: Das dritte ist der tantrische Buddhismus.

Frage 3: Ich dachte, der gehörte zum Mahayana.

RYR : Ja, das stimmt, aber er betrachtet sich selbst als Drittes Fahrzeug. Zur Erklärung: die sogenannten Hinayana (diesen Namen benutze ich nie) oder Theravada ist buddhistische Lehre im Anfangsstadium, die im Wesentlichen auf den Vier Edlen Wahrheiten basiert. Natürlich befolgen auch Praktizierende des Großen Fahrzeugs diese 4 Edlen Wahrheiten, aber der Schwerpunkt liegt für sie bei den Paramita. Der Aspekt der Gabe ist  im sogenannten Großen Fahrzeug wesentlich stärker ausgeprägt, daher auch die Qualifizierung Groß, denn es umschließt alle Wesen. Aber mit dieser Unterscheidung bin ich nicht ganz einverstanden, da auch im Theravada Großzügigkeit praktiziert wird. Die Praktizierenden dieses Fahrzeugs sind oft in ihren Handlungen viel mehr Großes Fahrzeug als die Praktizierenden des eigentlichen «Großen» Fahrzeugs, die manchmal egoistischer agieren als die Theravada-Anhänger sind !

Frage 4: Wie kann man bei der Arbeit Geben und Wohlwollen praktizieren, wenn man vom Chef gemobbt wird?

RYR: Gegen Mobbing muss man mit allen erdenklichen Mitteln vorgehen. Aber vor allem muss man versuchen, dem Mobber zu verstehen zu geben, dass er sich selbst Leiden schafft. Menschen, die Böses tun (und dazu gehört Mobbing), erzeugen Leiden nicht nur in ihrer Umgebung, sondern auch bei sich selbst, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Wer andere mobbt, schadet sich am Ende selbst. Wenn jemand anderen durch sein Verhalten schadet, so ist das wichtigste natürlich, ihn mit allen Mitteln davon abzuhalten, weiter zu machen. Aber das beste Mittel, um ihn davon abzuhalten, ist ihn zur Einsicht zu bringen, dass das Leiden, das sein Mobbing bei den anderen schafft, ihm selbst schadet.

Frage 5:  Wie kann man verstehen, dass Geber, Gabe und Empfänger eins sind?

RYR: Der Geber ist zwangsläufig eins mit dem, was er tut, dem Geben. Zugleich ist Geben immer auch Geben seiner selbst. Es wird also nichts getrennt, wenn man gibt. Dieses Gefühl hat man vielleicht nicht, wenn man einen Spendenscheck an UNICEF ausstellt und in den Briefkasten wirft, aber selbst da gilt diese Einheit. Jeder Form des Schenkens liegt ein innerer Antrieb zu Grunde, auf etwas zu verzichten, das uns « gehört », um damit anderen zu helfen. Man ist total mit dieser Praxis des Gebens identifiziert. Die Gabe kommt also aus einem selbst als etwas, worauf man verzichtet. Die Gabe ist ein Stück von einem selbst und deshalb sind Gabe und Geber eins.

Frage 6:  Kann es sein, dass man Zazen blockiert, wenn man die Atmung anhält? Was kann man dann tun?

RYR: Atmen ist Nehmen und Geben. Beim Einatmen empfange ich Energie aus der Luft, die ich einatme, aus dem Kosmos, beim Ausatmen gebe ich wieder ab. Insbesondere bei Zazen wird unser Ausatmen zu einer Form des Gebens: Man lässt los, was man eigentlich festhalten will. Ihr kennt sicher aus bestimmten Yoga-Schulen Atemtechniken, bei denen die Luft angehalten wird. Im Zen praktizieren wir das genaue Gegenteil: Alles, was wir empfangen, geben wir sofort wieder ab. Das ist eine Form des Gebens, denn die Luft, die wir ausatmen, ist durch die Zazenpraxis angereichert. Das Ausatmen im Dojo, gemeinsam mit anderen, hat schwingungsmäßig etwas Kommunikatives und jeder kommt unter die positiven Auswirkungen der Ausatmung der anderen. Nichts wird zurückgehalten. Und vor allem nicht die zahllosen Verdienste von Zazen. So sehr zahlreich sie auch sind, so gibt der Bodhisattva des Großen Fahrzeugs immer unmittelbar die Verdienste seiner eigenen Praxis wieder ab. Er behält sie nicht für sich, sondern widmet sie den anderen, ganz im Sinne der Vier Gelübde des Bodhisattvas, die wir nach Zazen singen. Eine Zeremonie ist immer jemandem oder einer Sache gewidmet, man macht sie niemals für sich selbst, jedenfalls nicht im Zen, sondern immer für andere. Aus diesem Grund dauern Zeremonien in Japan immer ein bisschen zu lang für meinen Geschmack: man beginnt immer mit einer Zeremonie, die Buddha gewidmet ist, danach eine zweite mit einem weiteren Sutra, für die Meister der Weitergabe, dann noch eine für die Familie und eine letzte für alle Wesen. Diese vier Phasen sollen verhindern, dass irgend jemand bei der Zeremonie vergessen wird, denn die Zeremonie ist ihrem Wesen nach praktizierte Gabe.

Frage 7: Kann übertriebene Anhaftung die Praxis blockieren?

RYR: Auf jeden Fall, es kommt allerdings auf den Gegenstand an, dem man anhaftet. Doch im allgemeinen blockiert jede Art von Anhaftung das Leben und somit die Praxis. Aber gleichzeitig kann das ein erster Schritt sein. Man darf nicht vergessen, wie viele Menschen leiden und ein Mittel gegen ihr Leiden suchen. Sie beginnen häufig zu praktizieren, indem sie der Hoffnung anhaften, durch die Praxis Linderung für ihr Leiden zu finden. In diesem Fall ist die Anhaftung eine Eingangstür zur Praxis: in diesem Zustand ist es besser der Praxis anzuhaften als überhaupt nicht zu praktizieren. Wenn man mit einem Meister praktiziert, der die rechte Lehre weitergibt, so wird dieser die Anhaftung an die Praxis und deren Verdienste nicht verurteilen, aber er wird versuchen, den/die Schüler/in behutsam dahin zu bringen, dass das Weitergeben der Verdienste, denen er/sie angehaftet ist, die höchste Form der Praxis ist und dass diese einem zu Gute kommt, wenn man mit einem mushotoku-Geist praktiziert, also ohne anzuhaften.

Frage 8:  Ich kann meine Atmung nicht loslassen.

RYR: Wie ich regelmäßig betone, besteht Zazen aus zwei Phasen: einer ersten, in der man sich bewusst auf die Haltung und auch auf die Atmung konzentriert. Bewusste Konzentration ist eine Form von Anhaftung. Man haftet an der Atempraxis, indem man tief und lang ausatmet, die Atmung bis unter den Bauchnabel führt. Dies ist ein bewusster Prozess der Konzentration auf die Atmung und so eine Form von Anhaftung. Solange man bewusst praktiziert, ist es eine Form von Anhaftung, allerdings eine positive, weil sie uns beim Einstieg in die Praxis hilft. Wird die Praxis dann dank dieser Anhaftung stark genug, führt sie uns darüber hinaus, das heißt in dieser zweiten Phase denkt man nicht mehr an die Atmung. Sie geschieht von allein. So wird sie zur Gabe und ist nicht mehr etwas, das man tut, um etwas dafür zurück zu bekommen.

Frage 9: Die Almosen, die die Mönche aus der Bevölkerung für ihre Unterweisungen bekamen, existieren in Japan kaum noch und in Europa überhaupt nicht. Wie kann man als Mönch in der westlichen Welt überleben?

RYR: Als Mönch ist es sehr einfach, man muss arbeiten. Das hat Meister Deshimaru ganz schnell am Anfang seiner Mission festgelegt und gesagt: « Ihr müsst arbeiten. » Die Vorstellung, ein Mönch brauche in der Gesellschaft nicht zu arbeiten kommt vom Kleinen Fahrzeug. Die Mönche des Theravada dürfen in der Gesellschaft gar nicht arbeiten, sie sollen nur von Almosen leben, was natürlich ihre Praxis in Europa schwierig macht, denn sie sollen keine berufliche Tätigkeit ausüben. Zen-Mönche hingegen sollen arbeiten. Also stellt sich die Frage für sie gar nicht.

Frage 9: In Japan werden die Tempel von der Bevölkerung finanziert, durch kito und solche Sachen. Daher kommt das Geld, aber sie sind auch wie Familienunternehmen, es sind Familientempel.

RYR : Du hast Recht mit deiner Bemerkung. Ich war wie du in Tempeln in Japan, wo Almosen zur Tagesordnung gehören. Die Mönche des Tempels, in dem ich war, ziehen einmal die Woche ihre Sandalen an, nehmen ihre Schüsseln und laufen den ganzen Vormittag durch die Straßen und betteln mit ihrem Hut tief im Gesicht, damit sie die Leute nicht sehen, die Almosen geben. Der Spender sieht den Mönch, aber der Mönch verbeugt sich nur zum Dank, ohne den Almosenspender zu sehen. Diese Einkünfte sind aber nur Zubrot für den Tempel, selbst wenn dabei einiges zusammen kommt, könnten sie davon allein nicht leben. Es ist eher wie eine Gabe der Verdienste des Gebens, das heißt, ihr Betteln gibt den Leuten Gelegenheit, die Verdienste der praktizierten Gabe zu empfangen. In diesem Sinne gibt der Mönch genauso viel wie der Almosenspender.

Frage 10 : Bei uns braucht man für eine Totenzeremonie nicht zu bezahlen….

RYR: Normalerweise gibt man ein fuse. Du hast Recht, das anzusprechen, denn ich scheue davor zurück, « Geschäfte zu machen ». Das ist eine abfällige Art, über fuse für Zeremonien zu sprechen, denn der mushotoku-Geist ist dabei wichtig. Wenn man eine Zeremonie durchführt, wohlwissend, dass es dafür später ein fuse gibt, dann ist das für den Geist desjenigen, der die Zeremonie durchführt nicht gut. Das ist mein Standpunkt. Aber ich beschwere mich auch nicht, wenn Leute, die Zeremonien durchführen, fuse erhalten, besonders wenn sie sich ganz für den Zen einsetzen und Gefahr laufen, sonst mittellos zu werden und ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren.

Frage 10 : Hier wird bei Zeremonien eine Dose für fuse aufgestellt, in die man Geld wirft.

RYR: Ja, man kann ja irgendwo eine Schüssel aufstellen und sagen: « Zeremonie ist kostenlos ; es kann gespendet werden. Nicht um Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen, aber Sie können spenden, wenn Sie wollen. »

Frage 10 : In La Gendronnière wird ein fuse verlangt. Man kann so viel man will in einem Umschlag abgeben. Wenn man nicht die Mittel hat, ist man nicht dazu verpflichtet.

RYR : Für ein wenig reicht es immer.

Frage 11 : Wie kann man jemandem helfen, der leidet, weil er im Sterben liegt, ohne dabei selbst ins Leiden abzustürzen?

RYR : Zugegebenermaßen ist es schwer, jemandem beizustehen, der leidet und für ihn präsent zu sein. Man sollte sich allerdings nicht sagen : «Ich muss etwas tun!», denn indem wir so denken, setzen wir uns einem Zwang aus, der weder uns noch dem anderen gut tut. Das Beste, was man machen kann, ist völlig im Zustand von mushotoku zu bleiben, in einer starken Präsenz, still, fast wie in Zazen (nicht unbedingt auf einem Zafu, auch auf einem Stuhl), am Bett des/der Sterbenden sitzen und versuchen, Zazen zu praktizieren. Das strahlt von uns aus und beruhigt den anderen. Oft wollen Sterbende die Menschen in ihrer Umgebung mit ihrem Leiden nicht belasten, aus dem Wissen heraus, was sie diesen bedeuten. Sie trauen sich oft nicht, ihr Leiden auszudrücken oder gar von ihrem nahen Tod zu sprechen, um die anderen nicht leiden zu lassen. Das ist nicht gut. Als Nahestehender sollte man sogar die/den Sterbende/n dazu ermuntern, ihre/seine Gefühle auszudrücken und damit zeigen, dass man sehr wohl im Stande ist, das zu hören. Natürlich bedeutet das auch für uns Leiden, aber ein durch die Zazenpraxis gezähmtes Leiden, das durch eine gewisse Gelassenheit gedämpft ist, die vierte der Praktiken des Bodhisattva.

Frage 11 : Wir haben zu mehreren eine Frau begleitet, die in Lyon im Krankenhaus im Sterben lag. Das war eine interessante, aber auch schockierende Erfahrung. So etwas kann man nicht miterleben, ohne selbst zu leiden. Aber ich glaube, für die Sterbende selbst war unser Kontakt zu ihr wichtig. Sie war ruhig und froh, Menschen um sich zu haben, mit denen zusammen sie praktiziert hatte.

RYR :  Das schlimmste Leiden in dieser Situation ist die Einsamkeit. Und seine Gegenwart zu schenken ist noch eine weitere Form der Gabe. Manchmal macht das die Menschen etwas unbeholfen und verlegen, weil sie sich fragen : « Was kann ich bloß tun ? » Aber es gibt nichts zu tun. Man ist einfach da, mit einer starken Präsenz. Das genügt.

Danke für eure Teilnahme hier im Dojo, aber auch auf Facebook und im Internet.

Weiterhin gutes Praktizieren, und ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.

 

 

Tags: Roland Yuno Rech

Drucken E-Mail

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.